Raum und Zeit
Wir dürften das Sein nicht durch das beurteilen, was wir mental begreifen, sondern durch das, was wir als seiend sehen. Die reinste, freieste Form der Einsicht in das Dasein, wie es ist, zeige uns nichts als Bewegung. Es existieren nur zwei Dinge, Bewegung im Raum und Bewegung in der Zeit, wobei die erstere objektiv, die letztere subjektiv ist. Ausdehnung ist wirklich, Dauer ist wirklich, Raum und Zeit sind etwas Wirkliches. Selbst wenn wir hinter die Ausdehnung im Raum zurücktreten und diese als psychisches Phänomen wahrnehmen könnten, als einen Versuch des Mentals, das Dasein praktisch handhabbar zu machen, daß wir das unzertrennbare Ganze auf einen begrifflichen Raum verteilen, könnten wir doch nicht hinter die Bewegung von Aufeinanderfolge und Wechsel in der Zeit zurücktreten. Denn diese sei der eigentliche Stoff unseres Bewußtseins. Wir und die Welt seien eine Bewegung, die dauernd vorwärtsschreitet und sich dadurch vermehrt, daß sie alle Aufeinanderfolgen der Vergangenheit in ein Gegenwärtiges einbezieht, das sich uns wieder als den Anfang aller Aufeinanderfolgen der Zukunft darstellt – ein Beginnen, ein Gegenwärtiges, das sich uns immer wieder entzieht, weil es nicht ist, denn es ist schon vergangen, bevor es geboren wird. Was ist, sei die ewige unteilbare Aufeinanderfolge der Zeit, die auf ihrem Strom eine progressive Bewegung von Bewußtsein trage, das auch unteilbar sei.4 Dauer also, ewig aufeinanderfolgende Bewegung und Wechsel in der Zeit, sei das einzige Absolute. Werden sei das einzige Sein.
In Wirklichkeit ist dieser Gegensatz zwischen tatsächlicher Einsicht in das Sein und begrifflichen Fiktionen der Reinen Vernunft trügerisch. Wenn in dieser Sache Intuition wirklich im Gegensatz zu Intelligenz stünde, könnten wir nicht ein rein begriffliches Vernunftdenken gegen fundamentale Einsicht vertrauensvoll unterstützen. Aber diese Berufung auf die intuitive Erfahrung ist unvollständig. Sie ist nur insoweit gültig, als sie fortschreitet, und irrt dort, wo sie kurz vor der vollständigen Erfahrung Halt macht. Solange sich die Intuition nur an das klammert, was wir werden, sehen wir uns in dauerndem Vorwärtsschreiten von Bewegung und Wechsel des Bewußtseins in der ewigen Aufeinanderfolge von Zeit. Wir sind der Strom, die Flamme in der Bildsprache des Buddhismus. Es gibt aber eine höchste Erfahrung und höchste Intuition, durch die wir hinter das Ich unserer Außenseite zurücktreten und finden, daß dieses Werden, dieser Wechsel und diese Aufeinanderfolge nur die äußere Erscheinung unseres Wesens sind und daß es Jenes in uns gibt, das überhaupt nicht in das Werden involviert ist. Wir können nicht nur die Intuition von diesem Etwas haben, das stabil und ewig in uns ist, können nicht nur in der Erfahrung einen flüchtigen Blick werfen hinter den Schleier der ständig dahinflutenden Erscheinungen des Werdens, sondern wir können uns auch dorthin zurückziehen und ganz in ihm leben. Dadurch bewirken wir eine völlige Wandlung in unserem äußeren Leben, in unserer Haltung gegenüber der Bewegung der Welt und in unserer Einwirkung auf sie. Die Stabilität, in der wir so leben können, ist genau das, was die Reine Vernunft uns bereits gegeben hat, obwohl man auch ohne das Vernunftdenken dahin gelangen kann und ohne im voraus zu wissen, was es ist: Es ist reines Sein, ewig, unendlich, undefinierbar, frei von den Einwirkungen der Aufeinanderfolge der Zeit, nicht involviert in die Ausdehnung des Raums, jenseits von Form, Quantität und Qualität. Es ist das Selbst, allein und absolut. (Life Divine I, S.96)
Die Ewigkeit ist die gebräuchliche Bezeichnung für die Zeit und den zeitlosen Geist. Was im Zeitlosen nicht manifestiert, impliziert, wesentlich ist, erscheint in der Zeit in Bewegung, oder zumindest in Design und Beziehung, in Ergebnis und Umstand. Diese zwei sind dann die gleiche Ewigkeit oder derselbe Ewige in einem doppelten Status; sie sind ein zweifacher Status des Seins und des Bewusstseins, der eine eine Ewigkeit des unbeweglichen Status, der andere eine Ewigkeit der Bewegung im Status. Der ursprüngliche Status ist der der Realität, zeitlos und raumlos; Raum und Zeit wären die selbe Realität, die sich auf die Entfaltung dessen, was in ihr war, erstreckt.
Der Unterschied wäre, wie in allen anderen Oppositionen, der Geist, der sich selbst in seinem Wesen und Seinsprinzip sieht, und derselbe Geist, der sich selbst in der Dynamik seines Wesens und Prinzips sieht. Raum und Zeit sind unsere Namen für diese Selbsterweiterung der einen Wirklichkeit. Wir sind geneigt, den Raum als eine statische Ausdehnung zu sehen, in der alle Dinge in einer festen Ordnung stehen oder sich bewegen; wir sehen die Zeit als eine mobile Erweiterung, die durch Bewegung und Ereignis gemessen wird: Raum wäre dann Brahman in sich selbst erweitertem Status; Die Zeit wäre Brahman in einer selbständigen Bewegung.
Aber das mag nur eine erste Ansicht und ungenau sein: Raum kann wirklich ein konstantes Mobil sein, die Konstanz und die andauernde Zeitbeziehung der Dinge in ihm erzeugt das Gefühl der Stabilität des Weltraums, und die Mobilität erzeugt den Sinn der Zeitbewegung im stabilen Raum.
Oder, wiederum, der Raum wäre Brahman, erweitert für das Zusammenhalten von Formen und Objekten; Die Zeit wäre Brahman, das sich selbst für die Entfaltung der Bewegung von Formen und Objekten mit eigener Kraft ausdehnt.
Ein rein physikalischer Raum könnte als ein Eigentum der Materie betrachtet werden; aber Materie ist eine Schöpfung von Energie in Bewegung. Raum also könnte in der materiellen Welt entweder eine fundamentale Selbstausdehnung der materiellen Energie oder ihres selbstgeformten Existenzfeldes sein, ihre Darstellung der unbewussten Unendlichkeit, in der sie handelt, eine Figur, in der sie die Formeln und Bewegungen ihrer Existenz aufnimmt aus ihrer eigenen Aktion und Selbsterschaffung.
Die Zeit wäre selbst der Lauf dieser Bewegung oder ein von ihr geschaffener Eindruck, ein Eindruck von etwas, was sich uns in ihrer Erscheinung als regelmäßig sukzessiv präsentiert, als eine Teilung oder ein Kontinuum, das die Kontinuität der Bewegung aufrechterhält und doch ihre Abfolge markiert, weil die Bewegung selbst regelmäßig aufeinander folgt.Oder aber die Zeit könnte eine Dimension des Raumes sein, die für das vollständige Wirken der Energie notwendig ist, aber von uns nicht als solche verstanden, weil sie von unserer bewussten Subjektivität als etwas selbst Subjektives wahrgenommen wird, von unserem Verstand wahrgenommen, nicht von unseren Sinnen wahrgenommen wird, und daher nicht als eine Dimension des Raumes erkannt, die für uns den Anschein einer sinnentwickelten oder sinnlich wahrgenommenen objektiven Erweiterung hat.
In jedem Fall, wenn Geist die fundamentale Realität ist, müssen Zeit und Raum entweder konzeptuelle Bedingungen sein, unter denen der Geist seine eigene Energiebewegung sieht, oder sie müssen grundlegende Bedingungen des Geistes selbst sein, gemäß dem Status des Bewusstseins, in dem sie sich manifestieren.Mit anderen Worten, es gibt eine andere Zeit und einen anderen Raum für jeden Status unseres Bewusstseins und sogar unterschiedliche Bewegungen von Zeit und Raum innerhalb jedes Status; aber alle würden Darstellungen einer grundlegenden spirituellen Realität des Zeit-Raums sein.
In der Tat, wenn wir hinter den physischen Raum treten, werden wir uns einer Erweiterung bewusst, auf der all diese Bewegung basiert und diese Erweiterung ist spirituell und nicht materiell; es ist das Selbst oder der Geist, der alle Tätigkeit seiner eigenen Energie enthält. Diese Herkunft oder Grundwirklichkeit des Raumes wird sichtbar, wenn wir uns vom Physischen zurückziehen: Denn dann wird uns eine subjektive Raumerweiterung bewusst, in der der Geist selbst lebt und sich bewegt und die andere als die physikalische Raumzeit ist und doch da ist ist eine gegenseitige Durchdringung; denn unser Geist kann sich in seinem eigenen Raum so bewegen, dass er auch im Raum der Materie eine Bewegung bewirkt oder auf etwas wirkt, das im Raum der Materie weit entfernt ist.
In einem noch tieferen Zustand des Bewusstseins sind wir uns eines reinen spirituellen Raumes bewusst; in diesem Gewahrsein scheint die Zeit nicht mehr zu existieren, weil jede Bewegung aufhört oder, wenn es eine Bewegung oder ein Geschehen gibt, kann sie unabhängig von irgendeiner beobachtbaren Zeitsequenz stattfinden. (Sri Aurobindo, Life Divine, PDF) , II, Teil1, S 375 - 376) (deutsch : online) , Bd. 2 Teil 1, 2